Stefan Zefferer
*1963LESUNG von KSV-Mitgliedern zum Projekt „Apoplixia II“
Artist Statement
Kippunkte16
trotzdem
Heilung
„Brot und Butter“, wiederholte die Tochter. „Sonst nichts“,fragte sie noch – leise.
Lange Augenblicke. – Sie schloss die Haustür vorsichtig, wollte der Mutter nicht wehtun. Mit einem Knall. Sie ging zu Fuß, Nebelwege. Risse zogen sich durch ihr Leben. Zuerst die Nabelschnur, die ihr den Atem genommen hatte. Dann der Tod des Vaters, den sie so sehr
geliebt hatte. Und die hämischen Dorfbewohnerinnen. Zahnlos beißend. Die Männer
schweigsam kalt. Die Mutter bemühte sich ein Leben lang schon. Das Glück sprang vor ihren Füßen herum, ließ sich nicht fangen. Seltenes Lachen. Licht in lebenslanger Polarnacht.
Brot und Butter waren teurer geworden. Trotzdem wollte sie Freude schenken, ein seltenes
Lächeln wenigstens. Licht. Sie kaufte Käse, Obst, Salat und Schokolade. Nicht viel. Das wusste die Mutter nicht, seit einigen Monaten bekam sie Geld zugesteckt. Sie betreute die
Pferde eines alten Freundes ihres Vaters. Karl. Er lebte allein auf dem kleinen Bauernhof, mit Hund. Ohne Frau. Die Mutter ahnte nur. Sie freute sich, wenn ihre Tochter nach Pferdestall roch, wegen des Asthmas – von der schweren Arbeit in Stiefeln und mit Mistgabel wusste sie nichts.
Nicht wirklich.
Auf dem Rückweg sprach sie mit sich selbst. Mit Vater auch. Das war manchmal noch schwer. Sie verbrauchte Tränen. Rollenspiele. Eine Art Ein-Frau-Theater, mit eigenem
Textbuch. Dramatisch. Sie spielte jede Rolle mit Einfühlung und mutig. Manchmal sang sie auch dazu. Märchenspiele. Heilung. Die Arbeit im Pferdestall hielt sie. Ihre Lungen blähten
sich auf, wenn sie die Luft einsog. Die Pferde mochten sie. Es dampfte. Es roch nach Wildnis, nach Abenteuer. Wie im Wunderland. Alice, Sonja Alice im wonderland.
Das gefiel ihr.
Die Mutter tadelte sie wegen des Einkaufs, weinte gleichzeitig. Damit hatte sie gerechnet, die Tochter. Trotzdem gelang es ihnen, gemeinsam zu essen. Seit langem wieder einmal, mehr als nur Butterbrot.
„Ich bin schwanger, Mama“, flüsterte sie. Zu leise. „Was sagtest du?“. „Ein Kind, ich bekomme ein Kind. Mama.“ In das andauernde Schweigen fielen die zermürbenden Tropfen des lecken Wasserhahns. Unberechenbar.
Die Batterie in der Küchenuhr war bereits im letzten Sommer leer geworden. Die Uhr stand
still. Es war immer genau zehn Uhr oder zweiundzwanzig. Jetzt verging keine Zeit. Die Zeiger blieben stur. Stillstand.
Sonja zitterte vor Angst. Was für eine Angst. „Dann werde ich also Großmutter.“ Mehr sagte sie nicht. Nur ihre warmen Hände, die sich kurz auf Sonjas Bauch legten, ließen ihre Berührung erfühlen. War es Freude? Das Zittern hatte aufgehört. Eine Katze war auf Sonjas Schoß gesprungen. Alles vibrierte. Und „mach dir keine Sorgen, wir schaffen das. Du bist wie dein Vater. Zäh. Unter deinem großen Herzen wächst dein Kind heran. Es hat Schutz.“
Und – dann nur mehr Tränen und Umarmungen.
Mutter hatte nicht gefragt, nur so viel „wer immer es ist, er ist willkommen.“ Aber das sollte ein Geheimnis bleiben. Sonja hätte es nicht verraten.
Niemals?
Enigma. Nur ihrem Kind wollte Sonja vom Vater erzählen …irgendwann.
Karl hatte die Veränderung längst bemerkt. Dass Sonja ein Kind erwartete war sichtbar
geworden, für ihn jedenfalls. Den Leuten im Dorf war noch nichts aufgefallen, sie schauten die meiste Zeit aneinander vorbei, hörten einander nicht zu. Sie schwatzten, sie schwätzten
miteinander und übereinander.
Er ging seit vielen Jahren das erste Mal in das Zimmer seiner verstorbenen Frau. Jetzt konnte er. Dort fand er alles, was ein Neugeborenes brauchte und auch, was eine
Mutter benötigte. Seine Frau war tödlich verunglückt und mit ihr das erste gemeinsame
Kind. Er berührte jedes Teil, jeden Stoff, roch, vergrub sein Gesicht in Wolle und Seide. Die Fensterflügel bewegten sich im aufkommenden Wind und er schrie seine Freude in die sich biegenden Bäume vor dem Haus. Verneigungen.
Karl glaubte zu wissen, wer der Vater des Kindes war.
Großvater sein, wenn auch nicht blutsverwandt. Er hatte Stück für Stück mit
großer Sorgfalt eingepackt. Das würde für den Anfang ausreichen. Am Abend wollte er den Pferdehändler treffen. Ein Schlitzohr, das wusste er. Aber Karl ließ sich selten übers Ohr hauen. Die Rösser waren seine Leidenschaft. Nun würden es bald vier sein, statt fünf.
Er hatte in den Nächten mit seiner Frau gesprochen und ihr Einverständnis, das Pferd zu verkaufen, eingeholt. Es brachte einen ordentlichen Batzen Geld. Für Sonja. Er musste es benennen, sie in die Lage versetzen, es annehmen zu können, ohne dabei ihre Würde zu
verlieren. Abfertigung war ihm eingefallen. Das stünde ihr zu, meinte er.
Sie fiel ihm um den Hals, als wäre es der Vater. „Für mein Kind, alles für mein Kind“,
schluchzte sie. „Und für die Mutter des Kindes“, sagte er trocken.
Immer wieder sah er dieses Bild, verschwommen im Winterwald … hörte seinen Schrei „Baum fällt!“. Der Stamm zerbrach im Fallen in zwei Teile, gespalten. Er rannte wie verrückt. Die Motorsäge heulte, jaulte auf. Die brechenden Augen, erstaunt. Unbegriffen. Die
Staatsanwaltschaft, die Sachverständigen, der Schmerz und dieses zerfressende Schuldgefühl. Viele Jahre hatte er gebraucht, um seine Schuldlosigkeit annehmen zu können. Es wurde damals keine Anklage erhoben. Ein Unfall.
Es war ein Unfall.
Das Dorforiginal hatte es immer schon gesagt, im Wirtshaus an der Theke sitzend, vor dem längst lauwarmen Bier „der Karl ist unschuldig. Das unschuldig lispelte er, der Bierschaum
klebte auf seiner Nasenspitze und die Hose roch ein wenig nach vergerbtem Leder. Scharf. Er war nicht mehr der Jüngste und er war weise. Sonja war gelähmt damals, in allem verzögert. Sie schleppte sich durch die Tage und Wochen und stützte die Mutter, so gut sie konnte.
Mirko hatten sie ihn gerufen. Der Friedliche. Und so war er. Zäh und friedlich. Irgendjemand musste ihm erzählen, dass er verstorben war, dass er seine Ruhe finden konnte.
R.I.P. Mirko.
***
Text: Stefan Zefferer