Triennale IIIKärnten 2023

Grenzüberschreitendes interdisziplinäres Kunstprojekt

Tom Ackermann

*1954 in Wien (A)
Lebt und arbeitet in Seeboden (A)

LESUNG von KSV-Mitgliedern zum Projekt „Apoplixia II“

26. August 2023 – LESUNG von KSV-Mitgliedern zum Thema SCHOCK im Rahmen der Ausstellung Apoplixia II (Kunstwerk Krastal)
Es lesen: Rhonda Lamberty, Monika Grill, Michael Maicher, Tom Ackermann, Sieglind Demus, Dagmar Cechak, Karin Ch. Taferner, Johannes Tosin und Stefan Zefferer.
Moderation: Alfred Woschitz, KSV-Präsident
Als Thema für künstlerische Auseinandersetzungen bietet Schock ein breites Spektrum an Möglichkeiten für Künstler, um ihre Gedanken und Emotionen zu verarbeiten und auszudrücken. Zum Einsatz kommen verschiedene Medien und Techniken, um das Thema Schock zu behandeln. Insgesamt kann der Schock als Thema für künstlerische Auseinandersetzungen eine intensive Erfahrung für Künstler und Betrachter sein.

Artist Statement

13. Februar 1945, Dresden

21:45 Uhr. Die Sirenen.
Der Strom wird abgestellt und die Straßenbahn hält an. Im Dunkel ist nicht zu erkennen, wo, aber die letzte vom Schaffner ausgerufene Haltestelle war der Altmarkt. Die meisten Fahrgästefolgen der phosphoriszierenden Bordsteinkante.-Schreibergasse 16. Es kann nicht mehr weit sein.
Ein drohender Brummton sickert aus dem Himmel. Der Mond hat sich durch die gezackten Wolken gekämpft, doch diesmal ist er in Begleitung. Hunderte schwarze Punkte haben sich ihm beigesellt. Sie fliegen in Formation südwärts wie ein Schwarm Zugvögel, doch keinem Fernziel entgegen…. ….sondern direkt in die Dresdener Altstadt.
Hoch über ihren Köpfen schwebt ein „Christbaum“ nieder, ein riesiges Gebilde aus gleißendweißem Magnesium.
-Sie stecken schon das Ziel ab!
–Wenigstens wissen wir, wo wir sind. Da vorn, der Tabakladen.Nur noch ein paar Minuten bis zur Wohnung.
21:50 Uhr. Schon ist der halbe Himmel erfüllt vom Brummen der Bomber. Die Geschwister Veit und Kläre erreichen das gesuchte Haus.Der Luftschutzwart öffnet und führt sie in den notdürftig geheizten Keller. Da ist alles vorhanden, Sauerstoffgeräte, Werkzeug, Lebensmittel, Erstehilfekästen, eine Ecke mit Spielzeug und jede Menge Wassereimer und Decken. Eine der Frauen springt auf und umarmt Kläre. Es ist ihre Freundin, Karoline Adam.
22:03 Uhr. Die Luken im Bauch der Lancaster-Bomber springen auf. Das Pfeifen der hundertfach zu Boden gehenden Last ist bis tief in die Keller zu hören. Erste Detonationen.
22:15 Uhr. In einem fort durchschlagen die hochexplosiven „Blockbuster“ die engen Wohnzeilen von Dach bis Keller. Die jahrhundertealten Barockhäuser erbeben in den Grundfesten. Da ist es auch schon geschehen. Ein ohrenbetäubender Knall, eine Druckwelle, das Bersten von Rohren und Leitungen, Staub und Dreck, Schreie, dann gespenstische Stille. Warten auf das, was man nur ausWochenschau, Zeitung und Schilderungen kennt und nun am eigenen Leib erleben wird. Erzählungen übertreiben. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm?
Oder noch schlimmer.
22:28 Uhr.  Die Temperatur beginnt zu steigen und steigt weiter, als verwandelten sich die Ziegel der Kellerwände in Kacheln eines überhitzten Ofens. Gase, die in Nase und Hals brennen, durchziehen den Raum. Das Atmen fällt schwer und die Gluthitze ist kaum zu ertragen.
Wir müssen raus!
Bloß wohin? Über ihnen brennt alles. Im Nu haben sie die Notverbindungstür zum Nachbarkeller offen, aber die Not nebenan ist unvergleichlich größer. Die Blockbuster haben dort alles zerschlagen. Von Dach bis Boden ein einziger riesiger Spalt, gespickt mit steckengebliebenen Stabbrandbomben, die alles rund um sie entzündet haben. Kein Lebenszeichen mehr, nur giftiger Qualm und kochend heißes Wasser aus einem zerborstenen Rohr. Unterirdisch kein Entkommen.
Sie tauchen Decken in das Rinnsal auf dem Boden. Der Luftschutzwart bearbeitet die Eisentür mit seiner Axt, bis sie ihnen entgegenfliegt. Die Stiege ist kaum zu sehen, das Eisengeländer glüht, unmöglich, sich festzuhalten, und aus den Ritzen schlagen Flammen, aber sie müssen durch. Kein neuer Sauerstoff, nur noch gashaltiger Dampf.
-Also Decken über Kopf und Arme und Kette bilden!
Der Luftschutzwart öffnet die Tür ins Freie. Nur dass da nichts „Freies“ mehr ist, sie tauschen bloß eine Gefangenschaft gegen die andere. Das Flammenmeer hat jede Ähnlichkeit mit einer Straße eingebüßt. Karoline beginnt zu beten.
Vater unser, der du bist im Himmel…. Nicht mehr weit bis dorthin. Denn längst haben sich die Einzelbrände zu einem einzigen glühenden Sturm vereinigt. Dabrennen keine wahllosen Ziele mehr, da verbrennt eine Stadt nach System, von oben nach unten.
geheiligt werde dein Name…
Doch der Geheiligte verschließt sein Ohr. Kein frommes Gebettelschützt vor der Nemesis, nur der Zufall, wer wann wo ist, entscheidetzwischen Leben und Tod. ….zukomme uns dein Reich….
Es kommt, doch für viele zu langsam. Schreie von Verbrennenden stechen in das Rauschen des Sturms. Die übergeworfenen Decken bieten keinen ausreichenden Schutz. Im Keller wäre man bloß erstickt. Mit etwas Glück hätte man seinen Tod gar nicht mitbekommen. Hier, an der Oberfläche, ist man ihm in all seinen Facetten ausgesetzt. Vor ein paar Stunden noch hat hier zum Karnevalsausklang Mummenschanz geherrscht, jetzt nur noch nackteUrgewalt.
Eine von Helfern gebildete Wassergasse rettet sie fürs Erste. Ein Mädchen, schwarze Jacke, schwarzer Rock, Gesicht und Hände rußgeschwärzt, an Kleidung und Armbinde als BDM-Mädel zu erkennen, bietet sich an, sie zur rettenden Elbe zu führen. Sie folgen ihr, halb blind durch Ruß und sengende Trockenheit, Veit, Kläre und am Ende der Kette Karoline, ihr Gebet in den Sturm schreiend….
…dein Wille geschehe…
Aber kann das Unfassbare, das hier geschieht, wirklich der Wille eines „lieben“ Gottes sein?
…und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern…
Nein, der Herr vergibt nicht, er vergilt, wie auch wir vergelten, nicht vergeben. Karolines Stimme ist stockend geworden. Klärewendet sich der Freundin zu. Ihre Schuhe brennen. Die bereits gefühllosen Füße spüren den flüssigen Asphalt nicht mehr. Sie klebt fest wie eine Fliege an der Leimrute und die Flammen greifen auf die Kleidung über. Sie streckt dem Mädchen die versengten Hände entgegen, als wäre es ihr Todesengel.
…und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel…
Bald bist du erlöst, Karo! Und ich werde bei dir sein.
Die Führerin schleppt die Geschwister weiter, vorbei anglosenden Phosphorresten und seltsam geformten Kohlestücken, die vor einer Stunde noch Menschen waren. Der Sog reißt Veit die ins Gesicht gezogene Mütze vom Kopf, und ein Schwall glühender Luft sticht ihm in die vor der Austrocknung ungeschützten Augen. Das Mädchen wirft ihm ihre eigene, in der Wassergasse getränkte Deckeüber den Kopf. Der Sturm wird stärker, je mehr Sauerstoff verbrennt. Der tödliche Cocktail von Chemie und Physik reißt die barocke Altstadt mit allem, was in ihr noch kreucht und fleucht, direkt in den Untergang. Das Höllenmaul braucht nichts weiter zu tun, als denRachen aufzureißen. Der Mann vor ihnen wird von unsichtbarer Hand erfasst und weggesaugt, direkt in die Feuersäule, die über dem Altmarkt in den Himmel wächst.
Schaut euch nicht um! Weiter! Das Gesicht der Führerin wird im Flackerlicht zur hasserfüllten Fratze. Was geht wohl in dem Mädchen vor? Man hat ihr und ihrer Generation alles genommen, den Glauben, die Hoffnung, die unbeschwerte Kindheit, vielleicht auch die Eltern und Geschwister. Jetzt, da es ums nackte Leben geht, leiert man sein Vaterunser, als würden fromme Sprüche etwas ändern. Nein, hier ist nichts mehr heilig, nur noch bestialisch, und „unser“ Vater…
…schaut weg.  

Tom Ackermann
aus dem Zeitroman: „Gloriettegasse